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Die Untersuchung der Glossen im Ekkehart-Orosius-Codex Sangallensis 621

Forschungsdatenbank Universität Zürich (Prof. Dr. Reinhold Kaiser)

Das Projekt gehört zum Problemkreis der Untersuchung der Nutzung der Klosterbibliothek St. Gallen (Weltkulturerbe der UNESCO; www.stiftsbibliothek.ch) zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert und deren Ausstrahlung über das Kloster St. Gallen hinaus. Die zentrale Fragestellung dreht sich um die Art und Weise der Rezeption historischer Werke der christlichen Spätantike im klösterlichen Umfeld, das heißt um die Form und Funktion der Aneignung derselben zu persönlichen Zwecken oder zu Zwecken der Weitervermittlung an Dritte.

Am Beispiel einer im späten 9. Jahrhundert im St. Galler Scriptorium entstandenen Abschrift der spätantiken apologetischen Weltchronik von Orosius (Historiae adversum paganos), dem Codex Sangallensis 621, ist im Rahmen einer Doktorarbeit (Eisenhut, Zürich 2006/07, gedruckt St. Gallen 2009) gezeigt worden, wie Hände des 9. – 11. Jahrhunderts diese Handschrift bearbeiteten und welcher Art die Spuren dieser Bearbeitung sind. Optisch treten sie in Erscheinung als Glossen in Form von interlinearen und marginalen Textkorrekturen, von Äquivalenten lateinischer Lemmata und in Form von Sachergänzungen, die morphologische, syntaktische, etymologische oder enzyklopädische Informationen enthalten und bisweilen mehrere Zeilen umfassen können. Sie sind beigeschrieben von zwei deutlich voneinander unterscheidbaren Händen. Die erste Hand wird von der Forschung uneinheitlich zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert angesiedelt. Die zweite wird Ekkehart IV. (ca. 980 – ca. 1060) zugeordnet. Die Erforschung der bis dato in ihrer Bedeutung im Rahmen der Textrezeption vernachlässigten und unterschätzten Textsorte der lateinischen Glossierung bildet einen Schwerpunkt des Projekts. Paläographische und inhaltliche Untersuchungen des Glossenmaterials führten zum Ergebnis, dass Ekkehart IV. den Codex in wenigstens zwei Etappen mit großem zeitlichem Abstand überarbeitet haben musste, die beiden dominierenden Hände – als m2 und m3 bezeichnet – also einzig dem Notkerschüer zuzuordnen sind.

Ekkehart IV. nimmt in der Sprach- und Literaturgeschichte St. Gallens als Geschichtsschreiber, Dichter und Textkritiker eine wichtige Stellung ein. Während sein Hauptwerk, die St. Galler Klostergeschichten (Casus Sancti Galli), seit 1829 (Ildefons von Arx, in: MGH SS II, hg. von Georg Heinrich Pertz, Hannover 1829 (ND 1976), S. 75-147) und 1877 (Gerold Meyer von Knonau, St. Gallen 1877, MVG NF 5/6) erschlossen ist, von Hans F. Haefele ins Deutsche übersetzt wurde (Darmstadt 1980, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 10) und derzeit von Stiftsbibliothekar Ernst Tremp neu ediert wird, und während die Dichtung in einer Edition von 1909 (Johannes Egli, MVG 31, 4. Folge 1) zugänglich gemacht wurde, gab es bis heute nur Teileditionen einzelner Glossen Ekkeharts IV., die überdies in unterschiedlichen Aufsätzen verstreut schwer zugänglich sind. Die Glossen im Liber Benedictionum (Cod. Sang. 393) wurden durch den Editor Johannes Egli in den Fußnotenapparat verbannt und sind dadurch auf unnatürliche Weise vom Grundtext getrennt und für die Fragestellung nach ihrer Funktion kaum brauchbar. Der Cod. Sang. 393 ist seit Sommer 2006 als Digitalfaksimile zugänglich. Zusammen mit Cod. Sang. 621 stehen damit die beiden am intensivsten von Ekkeharts IV. Hand glossierten St. Galler Codices online zur Verfügung. Unter Materialien ist die Liste der St. Galler Handschriften, die in der Literatur mit Glossen Ekkeharts in Verbindung gebracht wurden, als PDF-Dokument herunterzuladen.

Das Projekt der Untersuchung der Glossen im Ekkehart-Orosius-Codex Sangallensis 621 hat eine Zusammenarbeit zwischen Geschichtswissenschaft und Philologie, zwischen Bibliotheks- und Archivarbeit einerseits und universitärer Lehre und Forschung andererseits erfordert. Ein weiterer wichtiger Aspekt war die Förderung von wissenschaftlichem Nachwuchs im Bereich der mittelalterlichen Geschichte und der historischen Hilfswissenschaften wie Kodikologie und Paläographie und die Frage nach der Nutzung der neuen Medien. Dank dem Digitalisierungseffort der Stiftsbibliothek St. Gallen stehen in der Zwischenzeit zahlreiche mittelalterliche St. Galler Handschriften in hervorragender Qualität als Digitalfaksimiles online zur Verfügung (CESG). Das bibliothekenübergreifende Projekt 'Virtuelle Handschriftenbibliothek der Schweiz' (www.e-codices.ch) verfolgt – der Projektname sagt es – das Ziel, die mittelalterlichen Handschriften der Schweiz durch eine virtuelle Bibliothek zu erschließen. Das Faksimile von Cod. Sang. 621 wurde seit der Veröffentlichung im Herbst 2005 aktiv in die Projektierung einer elektronischen Glossenedition einbezogen.

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